Unsere Recherchen zu den illegalen israelischen „Außenposten“ im Westjordanland begann mit einer Feststellung: Die Gewalt der Siedler gegen die Palästinenser war 2023 massiver als je zuvor. Sie wächst seit Jahren stetig. 378 Verletzte und 15 Tote verzeichnete das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) für das Jahr 2023. Die Terrorangriffe der Hamas vom 7. Oktober haben die Gewalt noch befeuert.
Palästinensische Anwohner und israelische Friedensaktivisten haben viele Übergriffe gefilmt. Ihre Videos in den Sozialen Medien sind die wichtigste Quelle, die die Gewalt dokumentiert. Wir haben ihre Echtheit geprüft und mittels umgekehrter Bildsuche Ort, Zeitpunkt und Entstehungskontext verifiziert.
Ein Video hat uns besonders beschäftigt. Es wurde am 13. Oktober 2023 aufgenommen und zeigt, wie ein israelischer Siedler vor den Augen eines israelischen Soldaten auf einen Bewohner des Palästinenserdorfs Al-Tuwani schießt. Anstatt den Schützen festzunehmen, verlässt der Soldat in aller Ruhe mit ihm den Tatort. Um herauszufinden, wo sie hingegangen sind, haben wir den Schauplatz der Szene geolokalisiert. Google Street View ist gewöhnlich ein äußerst nützliches Instrument zur exakten Identifizierung des Entstehungsorts von Fotos und Videos. Im Westjordanland deckt es jedoch nur die Städte und Hauptstraßenverbindungen ab. Doch es gibt Alternativen: Wir wurden schließlich auf Mapillary fündig. Mithilfe dieser kollaborativen Webseite, die exakt lokalisierte Straßenbilder aus der ganzen Welt zusammensetzt, konnten wir den Tatort genau bestimmen und feststellen, dass ihn der Schütze in Richtung des 200 Meter entfernten israelischen „Außenpostens“ Havat Maon verlassen hat.
Die israelische NGO B’Tselem stattet seit 2007 Palästinenser mit Videokameras aus, damit sie Übergriffe filmen können. Die Videos sind mit dem genauen Standort auf ihrer Website zugänglich. Dadurch konnten wir die Angriffe kartografieren und die Zonen identifizieren, in denen sie 2023 am häufigsten waren.
Die illegalen „Außenposten“
Mit der wachsenden Gewalt steigt auch die Zahl israelischer „Außenposten“ im Westjordanland. Dabei handelt es sich um erste wilde Niederlassung auf Palästinensergebiet, meistens in der Nähe einer bereits bestehenden Siedlung. Diese Außenposten sind illegal, nicht nur nach dem Völkerrecht, sondern auch nach israelischem Gesetz. Die Errichtung der Außenposten lässt sich mit Satellitenbildern einfach zeigen. Auf Google Earth Pro oder Arcgis World Imagery Wayback kann man Veränderungen an einem gegebenen Ort verfolgen und das Auftauchen neuer Bauten dokumentieren.
Die israelische NGO Peace Now erfasst und kartografiert diese Außenposten. 191 verzeichnet sie insgesamt im September 2024. Allein 2023 wurden 26 neue errichtet, mehr als je zuvor in einem Jahr. Legt man die Peace-Now-Karte auf die der Tatorte, stellt man fest, dass die Errichtung eines neuen Außenpostens oft mit gehäuften Angriffen gegen die Palästinenser der näheren Umgebung zusammenfällt.
Die gewaltsamen Übergriffe sind Teil einer gezielten Landraub-Strategie, seit Jahren dokumentiert von verschiedenen NGOs. Ein Bericht der Organisation Kerem Navot, beschreibt das Vorgehen: Einzelne israelische Siedler gründen in der Nähe palästinensischer Dörfer eine Farm, lassen ihr Vieh auf den Weiden der palästinensischen Hirten grasen und verdrängen diese mit gewaltsamen Übergriffen nach und nach. Eine Familie genügt, um mehrere Hektar Land in Beschlag zu nehmen. Auf diese Art wurden 2023 die Bewohner von 21 palästinensischen Dörfern vertrieben.
Laut B’Tselem waren es noch nie so viele.
Die palästinensische Anwältin Quamar Mishirqi-Assad ist Ko-Direktorin der Stiftung Haquel: In Defense of Human Rights und vertritt seit Jahren im Westjordanland gewaltsam vertriebene Palästinenser. Im November 2023 hat sie beim Obersten Gericht von Israel staatlichen Schutz für die Bewohner von sechs Dörfern eingefordert, die vertrieben wurden oder von Vertreibung bedroht sind. Sie spricht in ihrer Klage von „systematischer, gewaltsamer Deportation“. Im August hat das Oberste Gericht geurteilt. Es verpflichtet die Polizei, die Armee und die Zivilverwaltung Israels, die Rückkehr der Palästinenser in ihre Dörfer zu ermöglichen und ihren Schutz zu garantieren. Die Bewohner von Zanuta sind tatsächlich heimgekehrt, wurden jedoch, wie verifizierte Videos beweisen, erneut von Siedlern angegriffen.
Yehuda Shaul, früher israelischer Soldat, heute Friedensaktivist, erklärt, dass sich die israelischen Außenposten halten können, weil die Gewalt der Siedler ungestraft bleibt und sie sogar staatliche Unterstützung bekommen: „Ich hatte mit 25 weder die finanziellen noch die logistischen Mittel, die es braucht, um sich auf irgendeinem Hügel ein Haus zu bauen, eine Straße zu asphaltieren, sich ans Strom- und Wassernetz anzuschließen und 500 Kühe zu kaufen. Die Hilltop-Siedler bekommen Geld, Hilfe und Grundstücke, da steckt ein ganzes System dahinter.“
Die staatliche Unterstützung der Außenposten
Um uns ein Bild von der staatlichen Unterstützung der Hilltop-Siedler zu machen, haben wir uns den Fall von Yinon Levy angesehen. Levy ist ein israelischer Siedler, der im Februar von den USA und der EU wegen Gewalt gegen Palästinenser unter Sanktion gestellt wurde. 2021 gründet er die Farm von Meitarim, einen Außenposten in ein paar hundert Metern Entfernung von vier palästinensischen Dörfern. Laut dem lokalen Flächenwidmungsplan liegt sie auf landwirtschaftlichem Nutzgebiet, es darf dort also nicht gebaut werden.
Der Regionalrat Hebron erteilt ihm trotzdem eine Ansiedlungserlaubnis. Wie die NGO Peace Now nachweist, hat er ein Abkommen mit der Entwicklungsabteilung des Regionalrats unterzeichnet. Die Regionalräte organisieren die öffentlichen Dienste für die Kolonien, der Staat Israel finanziert sie zu 40 Prozent.
Die Außenposten erhalten auch Hilfe von Vereinen wie Artzenu oder Hashomer Yosh. Ersterer vermittelt Landarbeiter aus Wiedereingliederungsprogrammen für Jugendliche, letzterer hilft bei der Bewachung der Farmen. Die Website Guidestar publiziert Zahlen zu den staatlichen Subventionen für Vereine in Israel. Ihr zufolge wurde etwa Hashomer Yosh in den letzten fünf Jahren mit mehr als zwei Millionen Euro subventioniert, das entspricht, je nach Jahr, zwischen einem und drei Viertel seines Budgets. Der Verein steht seit dem 28. August 2024 seinerseits unter US-Sanktionen, „wegen materieller Hilfeleistung für den bereits zuvor sanktionierten Außenposten Meitarim und die gleichfalls sanktionierten Personen Yinon Levy, Neriya Ben Pazi und Zvi Bar Yosef“. Dem Verein wird auch vorgeworfen, rund um ein palästinensisches Dorf Sperren errichtet zu haben, um die vertriebenen Bewohner von einer Rückkehr abzuhalten.
Seit dem Eintritt rechtsextremer Minister in die Regierung Anfang 2023 unterstützt der Staat die Außenposten offen. Finanz- und Verteidigungsminister Betzalel Smotrich und Innenminister Itamar Ben Gvir sagen ganz klar, dass sie für die Kolonisierung des Westjordanlands sind. So erklärte Smotrich im Juni 2024 bei einer Konferenz, deren Mitschnitt der New York Times zugänglich war: „Die landwirtschaftlichen Außenposten sind ein strategisches Instrument erster Klasse für den Schutz unseres Landes.“ Sein offen formuliertes Ziel: „jede Teilung des Gelobten Landes und die Errichtung eines Palästinenserstaates verhindern.“
Nach einigen Monaten haben die beiden Minister schon Reformen durchgesetzt, die der Armee Verwaltungsbefugnisse im Westjordanland entziehen und sie zivilen Instanzen übertragen. Das ermöglichte es Smotrichs Finanzministerium, mehrere Maßnahmen zur Unterstützung der Außenposten zu ergreifen.
So wurden etwa seit seiner Amtsübernahme mehr Außenposten nachträglich legalisiert als je zuvor: Im Februar 2023 wurden zunächst zehn Außenposten für rechtens erklärt, kurz darauf forderte Smotrich in einem von Peace Now geleakten Brief die Legalisierung von 70 weiteren. Sind sie für legal erklärt, darf ihr Anschluss ans Strom- und Wassernetz subventioniert werden. So steht ihrem Ausbau zu staatlich anerkannten Siedlungen nichts mehr im Weg.
Smotrich hat es auch geschafft, sich trotz eines Sparbudgets zur Finanzierung des Gaza-Kriegs substanzielle Mittel für die Außenposten zu sichern. Im Dezember 2023 genehmigte das israelische Parlament 18,6 Millionen Euro „zur Unterstützung von Maßnahmen für die Sicherheit der jungen Siedlungen“ im Westjordanland. Laut einer offiziellen Aussendung der Knesset wurde das entsprechende Gesetz von einem Vertreter des Finanzministeriums eingebracht und getragen.
Während also israelische Minister die Kolonisierung des Westjordanlands nach Kräften unterstützen, fordert die UNO Israel auf, den Siedlungsbau einzustellen. Am 19. Juli 2024 erklärte das höchste UN-Gericht, Israels „anhaltende Präsenz in den palästinensischen Gebieten“ sei „unrechtmäßig“ und seine Siedlungspolitik verstoße gegen das Völkerrecht. Die Richter verlangen „die Evakuierung der Siedler aus den besetzten Palästinensergebieten“.
Quellen und weiterführende Links:
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“No Other Land”, Dokumentarfilm von Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham und Rachel Szor, 2024.